Was Eltern durch KiKA lernen

Beim gemeinsamen Fernsehen entdecken Kinder neue Welten. Eltern können dabei ebenso Neues erfahren – manchmal auch über ihre Kinder. Jan Weiler, Journalist und Schriftsteller, blickt auf seine Familienerlebnisse mit KiKA zurück. Aus dem Leben eines Vaters.

Kinder sehen die Dinge völlig anders als große Menschen.

Leider sind meine Kinder inzwischen zu groß für KiKA. Das ist schade, weil ich deswegen auch nicht mehr KiKA schaue. Nun gibt es zwar eigentlich keinen Grund, darauf zu verzichten, aber mit dem Kinderkanal ist es so wie mit pürierten Früchten in Schraubgläschen: Man denkt, dass man sie auch dann noch kaufen würde, wenn die Kinder zu groß für Heidelbeeren in Apfel sind, aber wenn es soweit ist, sind die Gläschen ganz schnell vergessen. Das ist im Fall des Kinderkanals etwas ungerecht, denn wir waren große Fans. Außerdem verdanke ich dem Kinderkanal eine wichtige Erkenntnis, die auf Anhieb profan klingt, aber tiefe Spuren bei mir hinterließ: Kinder sehen die Dinge völlig anders als große Menschen. Die ahnen manchmal gar nicht, wie traumatisch zum Beispiel die an und für sich total harmlose Serie „Nils Holgersson“ wirken kann.

Bei unserem Sohn war das nämlich so. Immer, wenn Nils abflugbereit auf die Gans stieg, bekam er buchstäblich die Motten. Er hasste die Flugszenen und hielt sich dabei die Augen zu. Manchmal drehte er sich auch weg. Einmal erklärte er mir, was ihn so maßlos schockierte, nämlich die Vorstellung, dass Nils während der Reise einen seiner Holzschuhe verlieren könnte. Der Schuh flog also vom Fuß und sauste in die Tiefe, Nils beugte sich nach der Seite, um ihn vielleicht noch zu greifen oder ihm hinterher zu sehen und fiel dabei von der Gans, um schließlich hunderte Meter zu fallen und auf dem Erdboden zerschmettert zu werden.

Ich lernte, dass die kleinen Menschen manchmal riesige Sorgen mit sich herumschleppen, die uns fremd und absurd vorkommen.

Es war furchtbar und es tat mir leid, dass er an so etwas denken musste. Ich entwarf für ihn ein Szenario, in dem Nils zwar fallen, aber die Gans ihn spielend wieder aufnehmen würde.

Oder, noch besser: Nils fällt und dann kommt Super-Grobi angeflogen und trägt ihn zurück zum Gänserücken. Oder: Nils entdeckt im freien Fall, dass er selber ausgezeichnet fliegen kann. Ich gab mir große Mühe, den Alptraum meines Kindes ins Gute zu wenden. Aber es gelang mir nicht und ich lernte, dass die kleinen Menschen manchmal riesige Sorgen mit sich herumschleppen, die uns fremd und absurd vorkommen. Aber man muss sie ernst nehmen.

Es ist übrigens kein größerer Schaden in der Seele meines Sohnes angerichtet worden. Vorhin habe ich ihn auf die Geschichte angesprochen. Er kann sich daran überhaupt nicht mehr erinnern. Er hat den Stimmbruch gerade hinter sich gebracht und brummte nur: „Echt? Nils Holgersson? Ist ja krass.“ Dann löffelte er seinen Joghurt aus und ging in sein Zimmer, um ein wenig zu relaxen. Hoffentlich fällt er nicht aus dem Bett.

Portrait von Jan Weiler

Jan Weiler

Jan Weiler besuchte die Deutsche Journalistenschule und arbeitete dann beim Süddeutsche Zeitung Magazin in unterschiedlichen Funktionen, die letzten Jahre als Chefredakteur. Seit 2005 ist er freier Schriftsteller. Er verfasst vor allem Romane, Kolumnen, Hörspiele und Drehbücher und tritt auch als Sprecher auf seinen CDs und als Vorleser auf Tourneen durch ganz Deutschland in Erscheinung.

Zuletzt geändert am [ 28.02.2023 ]

Stand: Tue Feb 28 12:36:40 CET 2023 Uhr